hdgö inhaltlich an Themen orientiert
Sieben Bereiche umfasst "Aufbruch ins Ungewisse - Österreich seit 1918", die Eröffnungsausstellung im Haus der Geschichte Österreich (hdgö). Im Gespräch mit der APA erläutern Birgit Johler und Georg Hoffmann das kuratorische Konzept, das "die zwei Republiken, die zwei unterschiedlichen Diktaturen und einen Weltkrieg aus neuen Perspektiven beleuchten" soll.
Die Zäsur des Jahres 1918 sei bald als Startpunkt der Ausstellung festgestanden, schildern die beiden Kuratoren. "Wir wollten dabei eine neue Perspektive entwickeln und nicht diese Erzählung von 'Der Rest ist Österreich' und dem daraus abgeleiteten Trauma weiterführen", sagt Johler. Von dort ausgehend habe man sich verschiedenen Fragestellungen widmen wollen, die sich aus der genauen Auseinandersetzung mit den Gründungsjahren der Ersten Republik abgeleitet haben - von Wirtschaft und Politik über Grenze und Grenzerfahrung bis zum Kampf um gleiche Rechte. "Das sind alles Themen, die uns auch in der Gegenwart bewegen." Deswegen sei rasch klar gewesen, dass man thematisch arbeiten wolle. Ausnahme ist eine 60 Meter lange Zeitleiste, die "als chronologischer Handlauf" die Besucher begleiten soll, "als Orientierung, aber auch als spezifische Diskussion um Bilder" (Hoffmann).
Zwei Rücktritte im Beirat
Die Frage nach dem angeblich fehlenden großen Narrativ der Ausstellung hat im wissenschaftlichen Beirat zu zwei Rücktritten geführt. Es habe eine lange Diskussion gegeben, erzählen die Kuratoren. Statt eine einzige Erzählung zu den vergangenen 100 Jahren wolle man unterschiedliche Zugänge und eine andere Erzählweise anbieten, die durch die Frage der Demokratieentwicklung und ihrer Brüche verbunden seien. "Schauen Sie, es gibt viele Wege, sich mit diesem ambivalenten Jahrhundert auseinanderzusetzen, jede Ausstellung geht ihren eigenen Weg. Wir haben uns für sieben Themen entschieden, jeder Bereich funktioniert für sich", ergänzt Direktorin Monika Sommer. "Die gemeinsame Schnittmenge ist die Demokratie - und der dramatische Weg in die Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur und den NS-Terror."
Der modulartig aufgebaute erste Raum der Ausstellung trägt den Titel "Hoch die Republik". "Das ist unser Auftaktraum, der die BesucherInnen in die Zeit zurückführen soll", sagt Johler: "Mit dem 12. November 1918 ändert sich vieles. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Ausrufung der Republik eröffnen sich viele neue Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Es eröffneten sich mehrere Optionen in diesem Aufbruch ins Ungewisse." Thematisiert werden sozialen Herausforderungen, die Frage, wie die neuen politischen Akteure mit dem Erbe der Habsburger oder den vielen Heimkehrern und Kriegsinvaliden umging, aber natürlich auch der Paradigmenwechsel von der Monarchie zur Demokratie. Erstmals werden gleiche, geheime, direkte Wahl abgehalten, erstmals sind auch die Frauen wahlberechtigt. Wesentliche Aufmerksamkeit gilt dabei den "Spannungen unter den unterschiedlichen Akteuren" und dem Umstand, dass weder Namen noch Umfang des neuen Staates festgezimmert sind. In der anfänglichen "Republik Deutschösterreich", später aber auch in einzelnen Bundesländern gibt es klare Anschlussbestrebungen an Deutschland, die erst durch den Vertrag von Saint Germain beendet werden. "Die großen Themen werden im ersten Raum aufgemacht und in den folgenden Räumen wieder aufgegriffen", sagt Hoffmann.
Der Themenbereich "Wunder Wirtschaft?" fragt nach den wechselvollen Beziehungen von Ökonomie, Politik und Alltag. "Der Mythos vom Wirtschaftswunder findet sich in der Ersten und auch in der Zweiten Republik. Die Überschrift ist nicht ohne Grund mit einem Fragezeichen versehen", schildert Georg Hoffmann. "Der erste Schwerpunkt liegt auf den 1920er- und 30er-Jahren: Kernthese ist das lange Nachwirken des Ersten Weltkrieges in wirtschaftlicher Hinsicht und das Wechselspiel zwischen Wirtschafts- und Demokratiepolitik. Die zweite These thematisiert die Wurzeln des Wirtschaftswunders der Zweiten Republik. Österreich kann dabei auf eine Grundstoffindustrie aufbauen, die letztlich in dieser Form in der NS-Zeit mit Zwangsarbeit geschaffen wurde." Auch aktuelle Diskussionen wie die um die "Trümmerfrauen" werden hier aufgegriffen.
Symbol Waldheim-Pferd
"Diktatur, NS-Terror, Erinnerung" heißt einer der zentralen Bereiche in der Ausstellung. "Es geht ab 1933/34 um die Grundfrage, wie Demokratie derartig rasch zerstört und Diktatur aufgebaut werden konnte", sagt Georg Hoffmann. Für die Zeit des Nationalsozialismus "ist natürlich das Jahr 1938 ein sehr relevantes - mit dem 'Anschluss' und der Etablierung eines Terrorregimes".
"Und dann zeigen wir, wie die Republik bis in die Gegenwart hinauf mit dieser Vergangenheit umgeht. Hier ist das Waldheim-Pferd ein zentrales Objekt - es steht bei uns für den deutlichen Bruch in der österreichischen Diskussion um Erinnerung und Mitverantwortung." Die 30er-Jahre sind weiterhin jener Bereich der österreichischen Geschichte, der für die heftigsten Diskussionen sorgt. "Wir thematisieren die Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur und setzen sie deutlich ab von der Zeit des NS-Terrors. Wir machen auch einen gesamteuropäischen Kontext auf und beleuchten die Entwicklung faschistischer Diktaturen und Systeme", erklärt Hoffmann.
1933 bis 1938 im Fokus
Zu welcher Bezeichnung hat man sich im hdgö für die Jahre 1933 bis 1938 nun entschlossen? "Das war tatsächlich einer der Kernpunkte, über den intensiv diskutiert wurde. Nachdem letztlich auch innerhalb des Beirates, wo wir Begrifflichkeiten durchdiskutiert haben, keine Einigung erzielt worden ist, haben wir uns für die Verwendung des Begriffs Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur entschieden. Das ist ein Begriff, der noch immer in Diskussion ist, und genau darauf gehen wir auch ein. Es wird daher eine Installation geben, die fünf Begriffe, die im Laufe der Zweiten Republik für diese Zeit verwendet wurden, zeigt und gleichzeitig jeden Begriff problematisiert: Woher kommt er? Aus welcher Zeit stammt er? Was thematisiert er? Was blendet er bewusst aus?" Diese Begriffe sind Ständestaat, Austrofaschismus, Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur, Kanzlerdiktatur und autoritärer Ständestaat. Ein Schluss der Debatte sei noch nicht absehbar, sagt der Historiker. "Dazu sind die Sichtweisen und Blickwinkel noch zu unterschiedlich. Und wir machen deutlich, dass wir uns auch heute mit dieser Phase der österreichischen Geschichte zu beschäftigen haben."
Deutlich konsensfähiger ist dagegen das Kapitel "Das ist Österreich!?", das Entstehung und Wandel des Österreich-Bewusstseins gewidmet ist. "Wir gehen von der Prämisse aus, dass Österreich so vielfältig ist wie seine BewohnerInnen, aber dass es immer Bemühungen und Bestrebungen gegeben hat, eine Einheit herzustellen", sagt Birgit Johler. "Das dient einerseits natürlich der Herstellung eines Wir-Gefühls, andererseits aber auch der Abgrenzung und dem Ausschluss." Thema sind dabei etwa die Bundeshymne samt Töchter-Söhne-Diskussion, der Blick auf die Alpen und ihre Nutzung, aber auch der Wandel von identifikatorischer Architektur vom Barock hin zu "Wien um 1900".
"Grenzen verändern?"
Unter dem Titel "Grenzen verändern?" gehe es "darum, wie sich Grenzwahrnehmungen im Verlauf dieser 100 Jahre verändert haben und wie unterschiedlich sie diskutiert werden. Da ist der Zugang letztlich ein geografischer: Wir haben für jedes Bundesland einen Ort ausgewählt und thematisieren diesen zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten", erläutert Kurator Hoffmann. So ist etwa der Brenner im Jahr 1963 bei der Eröffnung der Europa-Brücke "eine der Vorzeige-Grenzen Österreichs Richtung Europa" und dient schon bei der Südtirol-Krise als Bollwerk.
In Klingenbach trifft man auf den damaligen Außenminister Alois Mock und seinen Bolzenschneider, Spielfeld wird als aktueller Bezugspunkt der Flüchtlingskrise sowie beim Slowenien-Krieg 1991 gezeigt, Hohenems als einer der zentralen Grenzorte jüdischer Flucht. Kollerschlag im oberen Mühlviertel war dagegen 1934 Schauplatz eines Überfalls der Österreichischen Legion mit einigen Todesopfern "und ist damit zu einem zentralen Ort des österreichischen Opfermythos geworden". Hier finden sich auch einige künstlerische Positionen, etwa eine Arbeit zur Kärntner Grenze von Nicole Six & Paul Petritsch. Kunst und Kultur ist kein eigenes Kapitel gewidmet. Künstlerische Arbeiten seien integraler Bestandteil der Ausstellung, erläutern die Kuratoren.
"Gleiche Rechte?!"
Das Schlusskapitel "Gleiche Rechte?!" soll von zivilgesellschaftlichem Engagement und Formen des Protests erzählen. "Ursprünglich war es das Konzept, dass wir hier feministische Kämpfe zum Thema machen. In den Diskussionen mit dem 34-köpfigen Publikumsforum und dem wissenschaftlichen Beirat haben wir das Konzept verändert und erweitert. Wir haben es geöffnet für den Kampf um gleiche Rechte von Personen und Personengruppen, die um die Anerkennung kämpfen mussten, dazu gehören MigrantInnen ebenso wie z.B. Menschen mit Behinderung", sagt Birgit Johler. Diese Gleichstellungskämpfe werden auf Leinwänden thematisiert. "Wir wollen zeigen: Der Kampf um gleiche Rechte ist nicht abgeschlossen. Demokratie ist so lebendig wie die Bürgerinnen und Bürger."
Als Pendant zur Tribüne des Auftakts, auf der man das Geschehen des Jahres 1918 verfolgen kann, gibt es hier ebenfalls eine Tribüne, auf der man diskutieren kann und Interviews zu sehen bekommt, bei denen "ausgewählten Personen, die heute solidarisch handeln" zu Wort kommen. Den Schluss macht eine Wand, an der Besucher dazu eingeladen werden, ihre Antworten zu hinterlassen auf die Frage: "Wozu lohnt es sich zu kämpfen?" Johler: "Wir sind schon gespannt, was da hinterlassen wird." Aus räumlichen Gründen landet der Besucher jedoch in einer Sackgasse. Um die Ausstellung zu verlassen, muss man die ganze 100-jährige Republikgeschichte zurückgehen. "Das gibt aber auch die Möglichkeit, noch einmal andere Dinge zu entdecken", ist die Kuratorin überzeugt.
"Schnittstelle zwischen Digitalem und materiellem Raum"
Das ist dann vielleicht jener Moment, wo die begleitende 60-Meter-Bildwand tatsächlich zum interaktiven Display wird. "Das begehbare Regal ist ein Versuch, eine Bildinstallation zu schaffen, die zwei scheinbar unvereinbare Dinge zusammenbringt: eine chronologische Übersicht und gleichzeitig ein innovativer Blick auf die österreichische Zeitgeschichte", erklärt der dafür zuständige Web-Kurator Stefan Benedik. "Unsere Idee war es, ein Interface zu bauen. Eine Schnittstelle zwischen dem Digitalen und dem materiellen Raum."
Dabei wolle man nicht nur Orientierung geben, sondern auch "zeigen: Was Geschichte ist, ist eine Entscheidung. Und da sollen auch die Besucher zu Wort kommen. Vieles in der Ausstellung ist veränderbar, die Besucher können ihre Fußabdrücke hinterlassen. Sie können den nächsten zeigen, welche Perspektive sie auf ein bestimmtes Ereignis haben. Das funktioniert digital genauso wie analog. Wir zeigen, dass Geschichte etwas Prozesshaftes, nichts Statisches ist und laden zur Mitgestaltung ein. Wir haben ja auch einen Auftrag, als Diskussionsforum zu fungieren und diese Diskussionen sollen auch in der Ausstellung stattfinden und nicht nur in Veranstaltungen, wo wir diesen Raum sowieso aufmachen."
Service: "Aufbruch ins Ungewisse - Österreich seit 1918", Ausstellung im Haus der Geschichte Österreich (hdgö), Neue Burg, Heldenplatz, 10. November 2018 - 17. Mai 2020. Eröffnung: 10. November, 11 Uhr; www.hdgoe.at