Lebensweltbezug herstellen: Politische Bildung in der Schule
Politik und Geschichte sind miteinander verbunden - auch im Schulunterricht, wo sie sich meist den heiß umkämpften Platz in den Stundenplänen teilen. Wie zeitgeschichtliche Inhalte heutzutage im Unterricht vermittelt werden, dazu hat APA-Science Historiker und Didaktiker befragt.
"Sieg Heil Deja Vu? Understanding the Global Rise of the Extreme Right" (Etwa: Den globalen Aufstieg der extremen Rechten verstehen) titelte "Foreign Policy In Focus" am 3. Oktober. In fast jedem Medium finden sich Überschriften zum steigenden Rechtsdruck, wie "Neofaschisten auf dem Vormarsch" (Das Erste) oder "Neue rechte Welle" (ZDF). Das ist dabei längst kein deutsches oder österreichisches Phänomen mehr, wie Meldungen wie "Hail Trump: White nationalists mark Trump win with Nazi salute" (BBC) oder "Brazil flirts with a neo-fascist" (Mail&Guardian) deutlich machen.
Dass ein Zusammenhang zwischen dem politischen Bewusstsein und der Schulbildung existiert, geht aus einer SORA-Befragung von 2014 hervor. Von den Befragten gaben jene mit höherem Bildungsabschluss (im Falle der Befragung wurde zwischen Personen mit und ohne Matura unterschieden) seltener an, dass der Nationalsozialismus nicht nur Schlechtes gebracht habe und dass die Diskussion über 2. Weltkrieg und den Holocaust beendet werden sollte. Während 94 Prozent der Personen mit Matura die Demokratie für die beste Regierungsform hielten, waren es bei den Befragten ohne Matura nur 81 Prozent. Gleichzeitig stimmte rund ein Drittel der Befragten ohne Matura zu, dass es einen starken Führer brauche, der sich nicht um Wahlen und Parlament kümmern müsse.
Schule soll Bewusstsein bilden
"Es scheint daher notwendig, im Geschichts- und Politikunterricht einen analytischen, kritischen Blick auf diese Entwicklungen zu schulen", schlussfolgerte Thomas Hellmuth am 31. Oktober 2016 in seinem online erschienenen Artikel "Neue Mitte rechts außen?". Es sei nicht alleine eine Auseinandersetzung mit historischem Faschismus notwendig, sondern auch mit gegenwärtigen rechtsorientierten Ideen, schrieb der Professor für Didaktik der Geschichte der Universität Wien. Dabei müsse darauf geachtet werden, den Lernenden nicht die eigene politische Position einzutrichtern, sondern stattdessen "eigenständiges kritisches Denken zu ermöglichen, das sich an einem demokratischen Rahmen orientiert."
In Paragraph 2 ("Aufgaben der österreichischen Schule") des Schulorganisationsgesetzes steht, dass junge Menschen "zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt" und "dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen" werden sollen. "Politische Bildung ist eine Voraussetzung sowohl für die individuelle Entfaltung wie für die Weiterentwicklung des gesellschaftlichen Ganzen", heißt es im Grundsatzerlass 2015 zum Unterrichtsprinzip Politische Bildung. "Der Geschichtsunterricht sollte nicht eine bestimmte politische Haltung vorgeben, sondern Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geben, ihre eigene herauszubilden", betonte auch Moritz Wein, wissenschaftlicher Mitarbeiter von erinnern.at, dem Institut für Holocaust Education des Bildungsministeriums. Im Jahr 2000 im Zuge eines österreichisch-israelischen Memorandum of Understanding gegründet, setzt das Institut seinen Schwerpunkt auf die Wissensvermittlung rund um den Themenkomplex Holocaust und Nationalsozialismus. Neben Fortbildungen und Hilfestellungen für Pädagogen entwickelt die Plattform Unterrichtsmaterialien und beteiligt sich an Forschungsprojekten.
Lehrlinge: Besonders spannende Zielgruppe
Schüler und Schülerinnen lassen nicht über einen Kamm scheren. An Berufsschulen ist die Diversität von Jugendlichen noch ausgeprägter. Denn Lehrlinge stellen eine besonders heterogene Gruppe dar. "Sie bringen sehr unterschiedliches Vorwissen und Interesse mit", erzählte der Historiker Peter Larndorfer, der an der Berufsschule für Gastgewerbe und der Pädagogischen Hochschule Wien unterrichtet, gegenüber APA-Science. "Ich unterrichte in einer Klasse Personen mit abgeschlossenem Studium und Jugendliche in AMS-Kursen, AHS-Abbrecher und -Abbrecherinnen und Geflüchtete, die seit zwei Jahren in Österreich sind. Aber auch 15-Jährige, die direkt aus dem 'Poly' kommen und 50-jährige in geförderten Nachqualifikationsprogrammen", erklärte er. Das sei herausfordernd und bereichernd, wenn man bereit sei, den Menschen zuzuhören und ihre Erfahrungen mit einzubeziehen.
Schwierig sei es, dass Zeitgeschichte und die Geschichte des Nationalsozialismus oft als "österreichische" Angelegenheit, als Problem der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen werde, meinte Larndorfer, der auch als Netzwerkkoordinator für Wien für erinnern.at tätig ist. Über die Auseinandersetzung mit Geschichte würden unbewusst viele Ausschlüsse produziert - wegen fehlendem Zugang zu Bildung, hohen Erwartungen, oder weil die "eigenen" (Familien-)Geschichten in den großen, national geprägten Erzählungen nicht vorkommen. "Gleichzeitig ist ein Verständnis für die Geschichte einer Gesellschaft auch ein Schlüssel zu Zugehörigkeit und Partizipation. Ich denke, hier liegt die besondere Herausforderung und das Spannende an historisch-politischer Bildung mit Lehrlingen", betonte der Historiker.
Gemeinsam mit Stefan Schmid-Heher vom Zentrum für Politische Bildung an der PH Wien hat Larndorfer Unterrichtsmaterialien zu sechs Themenbereichen gestaltet. Diese stehen in Verbindung mit der Ausstellung des Haus der Geschichte Österreich (hdgö) und sind speziell auf den Lehrplan der Berufsschulen abgestimmt. "Das Ziel dieser Kooperation ist es, Lehrlinge und Berufsschulklassen zu motivieren, sich mit Zeitgeschichte zu beschäftigen und das hdgö zu besuchen", führte er weiter aus.
Früh übt sich
Mit der Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins, sind sich die Experten einig, könne schon früh begonnen werden. Bereits im Kindergarten können soziale Kompetenz und eine demokratische Kultur trainiert werden, meinte Hellmuth, der unter anderem dem wissenschaftlichen Beirat von erinnern.at angehört, gegenüber APA-Science. "Wenn ich zu erkennen und darüber zu reflektieren beginne, welche Folgen Ausgrenzung haben kann, wird der Lebensweltbezug bei einem Thema wie Rassismus und Antisemitismus später leichter herzustellen sein." In der Volksschule dann, so Wein, sollten Volksschulkinder dabei unterstützt werden, ein Geschichtsbewusstsein zu entwickeln. Wichtig, betonte Hellmuth, sei besonders die Vor- und Nachbereitung: "Es hat etwa nur wenig Sinn, einen NS-Gedenkstätte zu besuchen, wenn nicht vorher ein kontextueller Rahmen geschaffen wurde. Auch die Nachbesprechung der Erfahrungen ist notwendig, letztlich um diese mit Hilfe des Lehrpersonals zu strukturieren und kognitiv verarbeiten zu können, sie also zur Erkenntnis umzuwandeln."
Die Bildung eines Bewusstseins bildet die Grundlage eines guten Geschichtsunterrichts. Den Schülern solle bewusst sein, wie das Gelernte im Alltag hilfreich sein kann, erklärte Hellmuth. Weg vom Frontalunterricht, hin zu einem erlebten Unterricht also. Erarbeitung von Inhalten in Kleingruppen, Exkursionen, Diskussion und die Möglichkeit, unterschiedliche Perspektiven kennenzulernen - das mache einen guten Geschichtsunterricht aus. "Das heißt freilich nicht, dass etwa - wie es in rechtsextremen Kreisen nicht selten geschieht - einfach der Holocaust infrage gestellt werden kann. Für dessen Existenz gibt es genügend Beweise. Warum aber dieses Verbrechen möglich war, darüber gibt es durchaus unterschiedliche Meinungen. Wichtig ist dabei aber, dass die Meinungen plausibel sind und auf nachvollziehbaren, rationalen Argumentationen beruhen", so Hellmuth. Im Unterricht, betonte er, sollte keine parteipolitische Bildung, sondern Demokratiebildung betrieben werden.
Schulbücher als Propagandamittel
Das traditionelle Medium zur Vermittlung von Inhalten ist dabei immer noch das Schulbuch. Ein gutes Geschichtsbuch, meinte Hellmuth, müsse aber mehr bieten als sogenannte "Meistererzählungen", in denen "schwarz auf weiß nachzulesen ist, wie es denn gewesen sei." Weg vom reinen Auswendiglernen sollte ein gutes Geschichtsbuch zum Nachdenken anregen, verschiedene Blickwinkel auf die Vergangenheit ermöglichen und dabei Bezüge zur Gegenwart und zu den Lebenswelten der Schüler herstellen.
Die Entstehung eines guten Schulbuches, erklärte Hellmuth, sei nicht einfach. Es orientiere sich an Lehrplänen, die nicht immer optimal seien und sich laufend veränderten. "Dazu kommt, dass Lehrpläne und damit auch Schulbücher, die diese umzusetzen versuchen, die jeweilige Vorstellung von Bildungspolitik in die Schule tragen. Es darf nicht vergessen werden, dass das Bildungssystem zum Erhalt einer Gesellschaft beiträgt, indem es letztlich die geltenden Normen und Werte sozialisiert und reproduziert."
Neue Möglichkeiten durch Digitalisierung
Durch die Digitalisierung ergeben sich neue Möglichkeiten, den Unterricht durch das klassische Schulbuch mit neuen Hilfsmitteln zu ergänzen. Erinnern.at hat sein Repertoire beispielsweise um - teils mit internationalen und europäischen Preisen ausgezeichnete - digitale Lernmaterialien wie Lern-Apps, Videos und Online-Toolboxes erweitert. "Schülerinnen und Schüler können individuell, aber auch in der Gruppe lernen. Gleichzeitig werden sie mit verschiedenen Medien, wie etwa Videos, angesprochen. Die Digitalisierung des Lernens bietet viele Chancen für die historisch-politische Bildung", so Wein.
Das Schulbuch, ist sich Hellmuth sicher, wird dadurch aber nicht abgeschafft werden. "Digitale Medien eigenen sich insbesondere für kompakte und damit eher kurze Informationen; dadurch kann freilich eine differenzierte Betrachtung leiden. Sie bedeuten also auch eine gewisse Gefahr: Wird die Medienkompetenz nicht geschult, werden Informationen, die problematisch sind, leichter unhinterfragt übernommen und als 'wahr' rezipiert. In sogenannten 'Blasen' werden nur noch bestimmte Perspektiven und Meinungen vertreten, andere ausgeschlossen. Der Verbreitung von Verschwörungstheorien und den sogenannten 'Fake News' sind Tür und Tor geöffnet."
Von Anna Riedler und Sylvia Maier-Kubala / APA-Science