"Warum Österreich 2050"
Alles fließt. Schon vor rund 2500 Jahren hat der Philosoph Heraklit darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Rahmenbedingungen ständig ändern und Maßnahmen am erfolgreichsten sind, wenn man sich selbst auch permanent weiterentwickelt. Im österreichischen Sprachgebrauch heißt dies heute zumeist „Reform“. Und wenn diese nicht die gewünschten Ergebnisse bringt, benötigt man eine „Reform der Reform“. Bei vielen ÖsterreicherInnen ist jedoch zunehmend das Gefühl entstanden, dass Richtung und Dynamik der Weiterentwicklung den Ansprüchen, die die Zukunft an uns stellen wird, nicht mehr gerecht wird. Niemand kann aber alle Facetten und Phasen der Entwicklung gleichzeitig überblicken. Daraus entstand der Gedanke, dass der Rat für Forschung und Technologieentwicklung (RFTE) verschiedene ExpertInnen einlädt, ihre Erfahrung zur Verfügung zu stellen und so den Zukunftsraum auszuleuchten, um ihn für einen breiteren Kreis sichtbar zu machen. Das Ergebnis dieses Aufrufs liegt nun in Form des Buches „Österreich 2050“ vor, das wir heuer im Rahmen des „Forum Alpbach“ vorstellen.
Den Wissensbogen in die weitere Zukunft zu spannen ist eine herausfordernde Aufgabe. Damit ist aber keine kurz- bis mittelfristige Ausrichtung einzelner AkteurInnen gemeint, sondern das sogenannte „Big Picture“: Wo wollen wir in dreißig Jahren sein? Wie stellen wir uns das Gesellschaftsmodell und darauf beruhend die Rolle verschiedener Einflussgrößen vor?
Die typisch österreichische Antwort auf die Frage nach der Zukunft würde vermutlich wie folgt lauten: „Es schaut nicht gut aus“. Wenn man in Österreich Rückblicke und Ausblicke in Summe betrachtet, fallen die Rückblicke meist noch moderat positiv aus, die Ausblicke dagegen zeichnen oft ein Bild der Zukunft, das Österreich einen baldigen Untergang prophezeit.
Es mag teilweise in der österreichischen Kultur begründet sein, dass man der überzogenen Trübung der Zukunftsaussichten nicht entgeht. Erstaunlich ist allerdings, dass die aktuelle Wohlstandslage diese Sichtweise gar nicht provoziert. Laut Internationalem Währungsfonds lag Österreich 2012 gemessen am Pro-Kopf-Einkommen in der EU an dritter Stelle und weltweit auf dem 11. Platz. Die Frage ist aber, ob dieses Niveau in den kommenden Generationen aufrechterhalten werden kann.
Die Datenlage zeigt, dass wesentliche Einflussgrößen der künftigen volkswirtschaftlichen Entwicklung nach unten weisen. Am deutlichsten wird dies im Vergleich mit den gesamten Zukunftsausgaben jener Länder, die wir als „Innovation Leader“ bezeichnen. Man kann an einzelnen Rankings diesen Trend auch schon erkennen. Damit wird klar, dass die derzeit stattfindenden Reformen zu würdigen sind, aber mit dem Tempo des Wettbewerbs mit anderen Nationen nicht mithalten. Wir brauchen also tatsächlich die „Reform der Reform“. „Österreich 2050“ liefert dazu Hinweise und Anregungen, wo und wie diese aussehen kann. Dabei sind die wesentlichen Einflussgrößen auf das Gesamtsystem bekannt und werden je nach ideologischer Prägung unterschiedlich in ihrem Gewicht bewertet.
Fest steht, dass das Dreieck Gesellschaft–Politik–Forschung in jenem Maße mit Leben erfüllt wird, wie die einzelnen Eckpfeiler Interesse an den Aktivitäten der jeweils anderen zeigen. Das erfüllt jene Verbindungslinien mit Energie, die einen nachhaltigen Austausch pflegen. Der RFTE zeichnet für die Verbindungsenergie in diesem Dreieck in besonderer Weise verantwortlich, da er erstens Empfehlungen an die Bundesregierung abgibt (Politik), zweitens gesetzlich verpflichtet ist, diese Empfehlungen zu veröffentlichen (Gesellschaft), und drittens als Teil des Forschungssystems die gesamte Systembreite abdeckt (Forschung).
Besondere Aufmerksamkeit in der Zukunftsdiskussion verdient jener Eckpfeiler, den wir selbst am stärksten beeinflussen können: Bildung. Die Frage ist, ob wir in Zukunft ausreichend ausgebildete - und noch viel wichtiger, motivierte - junge Menschen in Österreich haben werden. Die Antwort ist: Nein. Das Erstaunliche ist aber nicht die Klarheit der Antwort, sondern der Umstand, dass dies allen bewusst ist und trotzdem so wenig Bewegung besteht. Betrachten wir deshalb wieder das oben erwähnte Dreieck. Die Politik: Eine Vielzahl an produktiven und durchdachten Vorschlägen über die Entwicklung des Bildungssystems wird von wissenden Leuten vorgelegt. Und verschwindet unreflektiert in den Tiefen der ideologischen Grabenkämpfe. Die Diskussion darüber bleibt so dünn, dass selbst involvierte Menschen in verantwortlichen Positionen noch immer nicht die Gesamtschule von der Ganztagsschule unterscheiden können (oder wollen). Und so werden die Ideen mit dem Verweis auf ein bremsendes Element der (ideologisch) jeweils anderen Seite mit einem Schulterzucken ad acta gelegt.
Die Gesellschaft: In den meisten Beiträgen wird der beabsichtigte Wohlstandsgewinn („der nächsten Generation soll es besser gehen“) als wichtigstes Ziel formuliert. Dabei wird Bildung auf die Voraussetzung dafür reduziert, einen überdimensionalen Fernseher und ein teures Auto in der Garage zu finanzieren. Übersehen wird dabei, dass die Wirkung des Umstandes, dass viele Pflichtschulabgänger (und nicht nur die) große Probleme beim Rechnen und Schreiben haben, sich noch viel stärker auf unser Zusammenleben auswirkt als vielfach angenommen. Die soziale Teilhabe wird massiv erschwert, wenn man sich nicht artikulieren kann. Die Demokratie basiert auf dem Verständnis, dass die Menschen die gesellschaftlichen Modelle der wahlwerbenden Parteien verstehen. Bei den vorhandenen diesbezüglichen Alarmzeichen ist es unverständlich, dass die Elterngeneration nicht täglich auf die Straße geht und bessere Bildungsbedingungen fordert. Warum es nicht passiert, kann man freundlich mit „Bequemlichkeit“, provokant mit „Wohlstandsverwahrlosung“ erklären.
Die Forschung: Den Bereich Forschung, Technologie und Innovation trifft eine mangelnde Ausbildung besonders heftig, da die Neuheit von Gedanken auch immer darauf aufbaut, die alten Gedanken (anderer) verstanden zu haben. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Das vorliegende Werk ist eine Sammlung von Zukunftsbildern verschiedenster ExpertInnen. Es wird dazu beitragen, die Debatte in Österreich weiter zu beleben. Je mehr Menschen sich Gedanken über die langfristige Perspektive machen, desto deutlicher wird der Weg dorthin.