Forschende Flaggschiffe - in Großprojekten Richtung Zukunft
Eine Chance für visionäre Wissenschaft in ganz großem Stil soll das von der EU ins Leben gerufene FET-Flagship-Programm bieten. Ein bis zwei Großprojekte werden nach der noch heuer stattfindenden Juryentscheidung in den kommenden zehn Jahren die mehr als stattliche Fördersumme von mindestens einer Milliarde Euro zu Verfügung gestellt bekommen. Kein Wunder, dass sich zahlreiche namhafte Wissenschafter zu Konsortien zusammengeschlossen haben, um ihren Forschungsbereich in Stellung zu bringen.
Seit Mai vergangenen Jahres stehen die sechs Finalisten fest. Prominente internationale Vertreter dreier Projekte geben am 25. August im Rahmen der Alpbacher Technologiegespräche Einblicke in "Neue Technologien, die unser Leben verändern", aber auch österreichische Forscher bedienen das Steuerrad zweier Flaggschiffe mit.
Ein Vorhaben, das mit starker heimischer Beteiligung über die Bühne gehen würde, hört auf den Namen "Information Technology Future of Medicine", kurz ITFoM. Als Projektkoordinator fungiert der aus Österreich stammende Chemiker Hans Lehrach vom Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin. Das ehrgeizige Ziel besteht darin, auf der Basis von Erkenntnissen aus den Biowissenschaften umfassende Computermodelle zu erstellen, die in ihrer Gesamtheit eine Simulation biologischer Abläufe im menschlichen Körper bilden können - eine Art "virtueller Patient" also.
Größere Zusammenhänge sehen
"Bei ITFoM geht es darum, wie wir wirklich die Individualität einer Erkrankung eines Menschen in der Medizin erfassen und der Medizin zugänglich machen können", so Kurt Zatloukal vom Institut für Pathologie der Medizinischen Universität Graz im Gespräch mit der APA. Bisher habe man bei der Erforschung einer Krankheit meistens versucht, einzelne Prozesse oder einzelne Moleküle, die an der Erkrankung beteiligt sind, zu verstehen. Dieser Ansatz stoße immer mehr an seine Grenzen, "weil Biologie nicht einfach aus Einzelelementen, sondern aus einem sehr komplexen Zusammenspiel vieler Elemente besteht". Das sei in den vergangenen Jahrzehnten medizinischer Forschung "massiv unterschätzt" worden. "Wir müssen die Interaktion, also das gesamte System verstehen", betonte der Forscher, der im Rahmen des Projekts die medizinische Forschung koordinieren und somit die Schnittstelle zur Medizin sein soll.
ITFoM will einen wissenschaftlichen Paradigmenwechsel in Gang setzen. Die Zeit dafür sei reif, da "wir jetzt auch die analytischen Technologien haben, um diese biologischen Prozesse viel genauer zu analysieren". Dabei entstehen allerdings "enorme Datenmengen". Um diese Informationsflut zu verstehen, brauche man neue Verfahren. Dafür muss ein IT-Umfeld entwickelt werden, das den Forschern dabei hilft "mit diesen Datenmengen richtig zu hantieren und auch konkrete Schlüsse über biologische Prozesse ziehen zu können - das ist das Ziel von ITFoM", erklärte Zatloukal.
Neues Krankheitsverständnis
Im Gegensatz zur personalisierten Medizin, wie sie derzeit diskutiert wird, würde der neue Ansatz nicht große Krankheitsgruppen in immer kleinere Untergruppen mit immer spezifischeren Therapieansätzen unterteilen, sondern "überhaupt zu einem neuen Verständnis von Krankheit" führen. Es würde dann nicht mehr darum gehen, Erkrankungen nach befallenen Organen, Tumortypen oder Entzündungen, sondern nach den "betroffenen biologischen Prozessen, die dahinter stehen" zu definieren. Die Wissenschafter hegen die Hoffnung, mit dem Blick auf diese Mechanismen wieder Gemeinsamkeiten zwischen den Erkrankungen und Organsystemen zu finden und somit zu einer "Neugruppierung der Krankheiten zu kommen". Die Überlegung: Wenn man gemeinsame Mechanismen entdeckt, müssten sie auch gemeinsam durch bestimmte Medikamente therapierbar sein. "Nur wenn das gelingt, glaube ich, dass das Konzept der personalisierten Medizin Zukunft hat", so Zatloukal.
Eine komplette mathematische Modellierung der biologischen Abläufe im menschlichen Körper werde man sicherlich nicht erreichen, "aber dass man das in konkreten Organsystemen schaffen wird, oder etwa bei biologischen Prozessen, die das Zellwachstum regulieren, kann ich mir gut vorstellen", erklärte der Forscher.
Über Datenschutz diskutieren
Ein Aspekt, den man neben der reinen wissenschaftlich-technologischen Tätigkeit genau im Auge behalten muss, sei der Schutz der Patientendaten. Vor dem Hintergrund einer individuelleren Medizin werde es "auch hier neue Lösungen und Konzepte brauchen", die man in dem ehrgeizigen Projekt mit entwickeln möchte. "Es muss auch die Öffentlichkeit informiert und vertraut gemacht werden", nur so werde man eine sinnvolle Diskussion beginnen können. Gelingt das nicht und bleibt die Auseinandersetzung auf der "emotionalen und politischen Ebene" könnte das "die komplette Technologie in den Ruin bringen". Hier habe man als multinationales öffentliches wissenschaftliches Konsortium voraussichtlich bessere Möglichkeiten als "eine Firma, die ein Produkt auf den Markt bringen will". Zatloukal: "Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, dass sich die Wissenschafter etwas überlegen und es dann stolz als fertige Lösung einer Öffentlichkeit präsentieren, die dann wahrscheinlich überfordert ist."
"Um so einen Paradigmenwechsel in der Medizin, in der Forschung und in der Gesellschaft zu bewirken, braucht es mehrere Jahre, das heißt wir brauchen ein Programm das über fünf Jahre dauert." Der Zehn-Jahres-Horizont des Flagship-Programms sei daher sehr passend. Will man das Vorhaben wie geplant auf breiter interdisziplinärer Basis durchführen, brauche man entsprechende finanzielle Ressourcen in der Höhe von mehreren hundert Millionen Euro. Bei einem Aufsplitten der Initiative fürchtet der Experte, dass verschiedene kleinere Gruppen Lösungen entwickeln, "die letztendlich nicht zusammenpassen".
ITFoM in Alpbach
Genau das zu verhindern, wird in den Aufgabenbereich von Hans Westerhoff fallen, der ITFoM in Alpbach vertritt. Der Biochemiker und Direktor des Manchester Centre for Integrative Systems Biology (MCISB) ist einerseits Experte für mathematische Modellierungen von biologischen Prozessen, andererseits wird er die Aufgabe übernehmen, "die vielen Technologieentwicklungen letztendlich in ein Gesamtsystem zu integrieren", so Zatloukal.
Für den Grazer Forscher ist das Flagship-Programm "ein wichtiges Element in der europäischen Forschungslandschaft". Es brauche große fokussierte Initiativen, wenn man wirkliche Paradigmenwechsel anpeilt. Bisher sei vor allem in den Biowissenschaften die Struktur sehr stark durch kleine, hoch spezialisierte Einzelgruppen geprägt gewesen. "Die großen Herausforderungen in der Medizin werden wir aber nur durch vermehrte internationale Zusammenarbeit bewältigen können" - ein Ansatz der in manchen Forschungsbereichen "relativ neu" sei. In der Physik oder der Astronomie habe man "Big Challenges" bereits seit langem definiert und arbeite traditionell gemeinsam daran, wie etwa am Large Hadron Collider - LHC am Forschungszentrum CERN. Die Biowissenschaften hätten das bisher noch nicht in dieser Form herausgearbeitet.
Geist in der Maschine - das Gehirn am Computer
Ein anderes Projekt, das um eine Flagship-Förderung rittert, in Alpbach jedoch nicht vertreten sein wird, ist das "Human Brain Project" (HBP). Der Ansatz ist in seinen Grundüberlegungen mit dem von ITFoM vergleichbar: Die Forscher wollen sich den Vorgängen im Gehirn mit einer möglichst detaillierten computergestützten Abbildung der neuronalen Aktivitäten annähern. Die Vision, die hinter dem Projekt steckt, ist nicht mehr und nicht weniger, als die vollständige Simulation des menschlichen Gehirns.
Mit Alois Saria, Vorstand der Abteilung für Experimentelle Psychiatrie an der Medizinischen Universität Innsbruck, ist an der Konzeption dieses Großprojekts auch ein Österreicher federführend beteiligt. Insgesamt würden sich über 100 Organisationen aus den Neurowissenschaften, der Genetik, der angewandten Mathematik, den Computerwissenschaften, der Robotik und aus sozialwissenschaftlichen Fächern an dem ambitionierten Projekt beteiligen.
Die Projektpartner bilden bereits eine gemeinsame Forschungsplattform, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Daten aus jährlich über 60.000 einschlägigen wissenschaftlichen Dokumenten zu analysieren und die Erkenntnisse in ein umfassendes mathematisches Modell zu integrieren. Die kleinteilige Forschung zu Themen wie dem elektrischen Verhalten von Neuronen, den Mechanismen der neuronalen Vernetzung und deren molekularbiologische Grundlagen soll auf diesem Weg in Gleichungen eingehen, die der Simulation zugrunde liegen. Auch hier wird es ohne entsprechende gigantische Rechenressourcen nicht gehen - das kostet Geld und braucht breite Unterstützung.
Mit Simulationen gegen den Stillstand
Saria beschrieb bereits im Vorjahr gegenüber der APA ein wissenschaftliches Dilemma, das dem Ausgangspunkt des ITFoM-Projekts ähnelt: Die bisherige Pharmakotherapie stünde im Bezug auf psychiatrischen Erkrankungen "eigentlich seit 30 Jahren völlig an" und arbeite immer noch nach Wirkprinzipien die schon seit Jahrzehnten bekannt wären. Die Forscher versprechen sich von der Umsetzung ihres ehrgeizigen Vorhabens eine ganze Reihe neuer Möglichkeiten, nämlich Simulation von Störungsbildern und Erkrankungen. "Das Problem, das wir heute in diesem Bereich haben ist, dass wir zwar viele Details kennen, die Zusammenhänge aber so komplex erscheinen, dass sich damit nicht die Erkenntnisse gewinnen lassen, die wir brauchen, um wirklich neue Therapien zu entwickeln."
Das HBP soll einerseits den Neurowissenschaften und andererseits den Computerwissenschaften zu Durchbrüchen verhelfen. "Die Evaluierung der Pilotphase ist sehr gut verlaufen, wir sind daher nach wie vor zuversichtlich dass das Human Brain Project eines der geförderten Projekte sein wird", so der Wissenschafter. Neben Saria und seinem Team würden sich auch weitere österreichische Forscher und Institute beteiligen. Am IST Austria wird man unter der Leitung des Neurophysiologen Peter Jonas am Projekt mitarbeiten. Jonas und sein Team liefert Beiträge zur Simulation des Hippocampus - jenem Teil des Gehirns, der entscheidend für Gedächtnis, Lernen, Erinnerung und Raumorientierung zuständig ist. Seitens der Technischen Universität Graz beteiligt sich der Vorstand des Instituts für Grundlagen der Informationsverarbeitung, Wolfgang Maass.
Internationale Experten in Alpbach
Neben ITFoM und dem HBP bemühen sich in der letzten Vergaberunde noch vier weitere Großprojekte um die Förderung. Der Robotik-Spezialist Gordon Cheng von der Technischen Universität München wird in Alpbach erklären, wie er und seine Kollegen im Rahmen des Projekts "Robot Companions for Citizens" eine neue Generation von Assistenzrobotern realisieren wollen. Adrian Ionescu, Halbleiterphysiker an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne, wird darüber sprechen, was er und seine Kollegen unter ihrem "Guardian Angels" genannten Forschungsvorhaben verstehen.
Zwar nicht bei den Technologiegesprächen vertreten, aber trotzdem im Rennen um die Flagship-Förderungen ist auch "FuturICT", ein Ansatz, der es etwa Politikern ermöglichen soll, die Auswirkungen ihrer Entscheidungen in einer - man höre und staune - Art "Weltsimulation" auszutesten. Den Reigen der sechs Finalisten komplettiert mit "GRAPHENE" ein Vorhaben, dass sich mit dem Potenzial des oftmals als "Wundermaterial" bezeichneten Graphen auseinandersetzen möchte.
Von Nikolaus Täuber/APA-Science
Faktencheck Energiewende (Quelle: Klima- und Energiefonds)
Energieforschungserhebung 2014 (pdf)
Energieforschungsprogramm 2015: Einreichfrist 23.9.2015
Sessions zum Thema in Alpbach:
Energiewende: Gleiches Ziel - ungleicher Weg
Wasserstoff und Brennstoffzelle: Kommt der Marktdurchbruch?
Leuchtende Zukunft? Herausforderungen und Chancen der LED-Beleuchtung
Termine:
8. bis 11.9. 2015: International Symposium on Smart Electric Distribution Systems and Technologies (EDST 2015) (Wien)
15.9.: Energiegespräche TU Wien "Energieutopie oder Energiedystopie?" (Wien)
16.9.: Klima- und Energiemodellregionen: Pioniere der Energiewende - Finanzierung als Schlüssel für die Energiezukunft (Wien)
5. bis 7.10. 2015: Österreichische Photovoltaik-Tagung (Schwaz/Tirol)
Fakten
1945 gegründet
Drei Wochen Seminare, Symposien und Debatten
12 Symposien, 1 Seminarwoche, 5 Sommerschulen
4.000 Teilnehmer aus über 65 Ländern
700 Stipendiaten
650 Sprecher
>30 Alumni-Organisationen in 25 Ländern
Die Organisation
Das Europäische Forum Alpbach ist ein gemeinnütziger, unabhängiger Verein mit einem hauptamtlichen Organisationsteam. Es finanziert sich durch Teilnahmegebühren, öffentliche Förderungen sowie privates Sponsoring. Als Organisation ist das Europäische Forum Alpbach nicht nur für die Programmierung der gleichnamigen Konferenz im Sommer verantwortlich, sondern auch für eine Reihe anderer Veranstaltungen, die das ganze Jahr über in ganz Europa stattfinden.
Präsident: Franz Fischler (seit 2012)
Links
Fachhochschulforum (21.8.2013)
Universitätenforum (21.8.2013)
Technologiegespräche (22.-24.8.2013)
Fakten
1945 gegründet
Drei Wochen Seminare, Symposien und Debatten
12 Symposien, 1 Seminarwoche, 5 Sommerschulen
4.000 Teilnehmer aus über 65 Ländern
700 Stipendiaten
650 Sprecher
>30 Alumni-Organisationen in 25 Ländern
Die Organisation
Das Europäische Forum Alpbach ist ein gemeinnütziger, unabhängiger Verein mit einem hauptamtlichen Organisationsteam. Es finanziert sich durch Teilnahmegebühren, öffentliche Förderungen sowie privates Sponsoring. Als Organisation ist das Europäische Forum Alpbach nicht nur für die Programmierung der gleichnamigen Konferenz im Sommer verantwortlich, sondern auch für eine Reihe anderer Veranstaltungen, die das ganze Jahr über in ganz Europa stattfinden.
Präsident: Franz Fischler (seit 2012)
Links
Fachhochschulforum (21.8.2013)
Universitätenforum (21.8.2013)
Technologiegespräche (22.-24.8.2013)
Dem Thema "Erwartungen - Die Zukunft der Jugend" widmet sich heuer vom 16. August bis 1. September das insgesamt 68. Europäische Forum Alpbach.
Es diskutieren etwa 4.000 internationale Teilnehmer aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung aus mehr als 60 Nationen, darunter rund 700 Stipendiaten.
Das Programm aus Sicht von Wissenschaft und Bildung:
- 16.-22. August: Alpbacher Seminarwoche
- 17.-20. August: Gesundheitsgespräche
- 22. August: Fachhochschulforum
- 22. August: Universitätenforum
- 23.-25. August: Technologiegespräche